Über die Beständigkeit einer dichotomen Geschlechterordnung in der Bundestagsdebatte zur »dritten Option«.

Abstract

Während die Konstruiertheit der Geschlechterdifferenz seit mindestens 25 Jahren als soziologischer Common Sense betrachtet wird, polemisieren Akteur_innen der extremen Rechten gegen ein zu ihren Zwecken umgedeutetes Verständnis von »Gender«. Das zeigt sich auch in der Plenardebatte um die Einführung eines dritten, positiven Geschlechtseintrags ins Personenstandsregister. Zwei Lager mit sich in ihren Grundannahmen unversöhnlich gegenüberstehenden Verständnissen von Geschlecht lassen sich skizzieren. Überraschend ist die Verteilung der Abgeordneten, die der CDU/CSU-Fraktion angehören, zwischen all diesen Lagern. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Erkenntnis über die soziale Konstruiertheit der Geschlechterdifferenz den auf Desinformation setzenden Medienkampagnen der Neuen Rechten zum Trotze letztlich auch in der größten deutschen konservativen Partei angekommen ist.

Das Ende der Zweigeschlechtlichkeit kam wider Willen

Vor bereits einem Vierteljahrhundert konstatierte Stefan Hirschauer, dass die Annahme, die Geschlechterdifferenz sei sozial konstruiert, in einer gewissen Weise zum soziologischen Common Sense gehöre (vgl. 1994: 668). Zweigeschlechtlichkeit sei »eine selbsttragende soziale Konstruktion«, »unabhängig von biologischen und psychologischen Annahmen« (Ebd.: 672).

Dieser Erkenntnis zum Trotze scheint sich das in der Mehrheitsgesellschaft vorhandene Alltagswissen über Geschlecht dem Forschungsstand nicht angenähert zu haben. Ganz im Gegenteil: Mit Kampfbegriffen wie »Gender-Terror« oder »Genderismus« versuchen rechte und extrem rechte Akteur_innen den Begriff Gender inhaltlich zu entleeren, zur Ideologie umzudeuten und so ihre eigene geschlechterpolitische Agenda zu etablieren (vgl. Lang 2017b). Mit Erfolg, wie der Einzug der sich explizit als »Anti-Gender-Partei« (Lang 2017a: 68f.) verstehenden »Alternative für Deutschland« (AfD) in die Parlamente zeigt.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, dass »Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, […] in [ihren] Grundrechten verletzt [werden], wenn das Personenstandsrecht [sie] dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt« (BVerfG 2017: 1), veranlasste die Bundesregierung schließlich zu einem Gesetzentwurf, der den Eintrag »divers« als dritte Option für den Geschlechtseintrag vorsah (vgl. BT-Drs. 19/4669). Damit stand das Ende der Zweigeschlechtlichkeit, zumindest im Personenstandsrecht, auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages – und das obwohl die Vermutung nicht fernliegt, dass die stärkste Fraktion der Regierungsmehrheit, die mit ihrem Gesetzentwurf das Thema obendrein gesetzt hat, ein konservatives, nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht mehr zeitgemäßes Geschlechterverständnis vertritt. Ganz zu schweigen von der stärksten Kraft in der Opposition, die nach Kräften gegen »Gender« polemisiert.

Ein Aufeinanderprallen traditioneller und moderner Vorstellungen von Geschlecht scheint vorprogrammiert. Es stellen sich die Fragen: Wie beziehen sich die Redner_innen auf das Zweigeschlechtermodell, das offenkundig nicht mit dem Grundgesetz vereinbar war? Welches Geschlechterbild vertreten sie und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es dort zwischen den Redner_innen? Unterscheidet sich dieses Bild vom heutigen Forschungsstand und wenn ja: wie sehr?

Dieser Artikel soll zunächst einen kurzen Überblick über den Forschungsstand zu Geschlecht und der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit geben. Nach kurzen Erläuterungen zu den verwendeten Begriffen soll mithilfe von Zitaten der Redner_innen das in den zwei Aussprachen zum Gesetzentwurf am 11. Oktober und 13. Dezember 2018 explizit und implizit zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Geschlecht im Hinblick auf Zweigeschlechtlichkeit nachgezeichnet und theoretisch eingeordnet werden. Abschließend werden die in der Debatte vertretenen Geschlechterverständnisse zusammengefasst und Erklärungsansätze für die Lagerbildung präsentiert.

Geschlecht im Alltagswissen und seine soziale Konstruiertheit

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist sozial konstruiert. Das bedeutet nicht, dass es keine Unterschiede zwischen den Körpern der Menschen gibt, sondern dass die Kriterien zur Unterscheidung menschen- oder, genauer gesagt, gesellschaftlich gemacht und eben nicht natürlich sind. Uneinigkeit besteht darin, ob Geschlecht nur die herkömmlichen Rollenzumutungen, Sozialisationsprozesse und kulturellen Stereotype meint (vgl. Hirschauer 1994: 668) oder ob man darunter eine »interaktive Praxis der Darstellung und Attribution [verstehen kann], die ein Alltagswissen von den Strukturen sozialer Wirklichkeit reproduziert« (West/Zimmerman 1987, zitiert nach Hirschauer 1994: 670).

Unabhängig davon, welches Begriffes man sich bedient, haben Suzanne J. Kessler und Wendy McKenna (1978) drei Basisannahmen im Alltagswissen ausgemacht, die jeder Zuordnung von Geschlecht zugrunde liegen:

  1. Alle Menschen haben unverlierbar ein Geschlecht (Konstanzannahme).
  2. Sie haben es aus körperlichen Gründen (Naturhaftigkeit).
  3. Entweder hat man das eine oder das andere Geschlecht (Dichotomizität).

Dieses Alltagswissen über Geschlecht stellt seinen Anwender_innen eine »dichotome Optik bereit, die sowohl in der Wahrnehmung von Personen wie in der von Körpern erlaubt, immer zwei Sorten zu erkennen« (Kessler und McKenna 1978, zitiert nach Hirschauer 1994: 672).

Um den Vergleich des den verschiedenen Redebeiträgen zugrundeliegenden Geschlechterverständnisses zu ermöglichen, wurde bei jeder Rede geprüft, ob – und wenn ja, wie – sich der_die Redner_in auf diese Basisannahmen des Alltagswissens bezieht. Daneben wurde – wo immer es möglich war – versucht, explizite als auch implizite Aussagen zu Zweigeschlechtlichkeit und Vorstellungen über die Verfasstheit von Geschlecht herauszudestillieren.

Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht

Wenn hier von Geschlecht die Rede ist, ist damit primär eine soziale Kategorie gemeint. Der Begriff bezieht sich aber auf weitaus mehr als nur Geschlechterrollen: In Abgrenzung zu dem Begriffspaar Sex und Gender aus der Frauen- und Geschlechterforschung der 1980er-Jahre – Sex als »biologisches«, Gender als gesellschaftliches Geschlecht – wird diese Trennung nicht mehr vorgenommen. Geschlecht beinhält immer sowohl soziale als auch kulturelle, politische und biologische Komponenten, die sich historisch verändern können (vgl. Becker-Schmidt und Knapp 2003, zitiert nach Smykalla 2006). Gender und Geschlecht kann man zum heutigen Zeitpunkt synonym verwenden, um aber die Begriffsdichotomie der 1980er zu überwinden, wird hier bevorzugt von Geschlecht die Rede sein.

Die geschlechtliche Identität beschreibt wiederum das Empfinden von Geschlechtszugehörigkeit. Natürlich ist auch dieses nicht frei von gesellschaftlichen Einflüssen, nichtsdestoweniger ist dieser Begriff ausschließlich subjektiv zu verstehen. In einigen Redebeiträgen beziehen sich die Abgeordneten außerdem auf das Konzept des »biologischen« Geschlechts. Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass das Geschlecht anhand der Ausprägung der inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmale, Chromosomen oder Gonaden (Sexualhormone produzierende Keimdrüsen) bzw. Hormone als eindeutig männlich oder weiblich bestimmt werden kann.

Das ist in doppelter Hinsicht nicht mehr aktuell: Einerseits zeigen Studien, dass die forschenden Naturwissenschaftler_innen mitunter selbst an der sozialen Konstruktion von Geschlecht und an Naturalisierungen ihres Alltagsglaubens beteiligt sind (vgl. Fox-Keller 1986, Fausto-Sterling 1988, Haraway 1989, Martin 1987, Honegger 1991, Laqueur 1992, Schiebinger 1995 u.v.m., zitiert nach Gildemeister und Hericks 2012: 287).

Andererseits gibt es ein weites Feld an Kombinationsmöglichkeiten körperlicher Merkmale, die sich in ihrer Funktion schwer als männlich oder weiblich kategorisieren lassen (vgl. Ainsworth 2015; Voß 2011: 82–98), weshalb beispielsweise Sigrid Schmitz das Bild von Geschlecht als »Kontinuum mit polarisierter Entwicklung« (2006: 40) ins Spiel bringt. Selbst das in den 1950er-Jahren entwickelte, bis heute prominent vertretene Stufenmodell – demzufolge ist eine dichotome Unterscheidung zwischen »männlich« und »weiblich« mithilfe »geschlechtsspezifischer« Chromosomen nach dem Schema von »XX« und »XY« möglich – wurde nachweislich von Naturalisierungen geprägt, die eine Geschlechterdichotomie erst herstellten (vgl. Gildemeister und Hericks 2012: 288; Schmitz 2006: 35–41).

All diese Erkenntnisse verwässern den Begriff der Intersexualität. Legt man dort eine dem allgemeinen Begriffsverständnis wahrscheinlich sehr nahe Definition an, beispielsweise von Menschen, »die nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden [können oder] sich zwar genetisch eindeutig [mit] ein[em] Geschlecht identifizieren, [das] aber nicht der körperlichen Ausprägung [entspricht]« (Spiegel Online 2017), widerspricht das aufgrund der darin enthaltenen Prämisse, einzelne bio-medizinisch feststellbare Kriterien erlaubten eine dichotome Zuordnung, dem oben skizzierten Forschungsstand.

In der Praxis erfolgt die Zuordnung zur Kategorie intersexuell am häufigsten nach Ansicht der äußeren Genitalien direkt nach der Geburt; sie bezieht sich also auf Merkmale des morphologischen Geschlechts (vgl. Schmitz 2006: 41). Entsprechen diese Merkmale nicht den vermeintlich naturwissenschaftlichen Vorstellungen exklusiver Zweigeschlechtlichkeit, so raten Ärzt_innen beispielsweise zu medizinisch-operativen Eingriffen, um die Neugeborenen der binären Norm anzugleichen. Damit werden die naturwissenschaftlichen Vorstellungen exklusiver Zweigeschlechtlichkeit erst praktisch sozial wirksam (vgl. Gildemeister und Hericks 2012: 288). Es zeigt sich: Intersexualität beschreibt eine soziale Wirklichkeit, keine naturwissenschaftliche.

Die vom Bundesverfassungsgericht und der Bundesärztekammer verwendeten Begriffe Varianten bzw. Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung meinen genau dasselbe wie Intersexualität, sie sollen nur eine Stigmatisierung der Betroffenen vermeiden (vgl. Vorstand der Bundesärztekammer 2015). Wenn sie von einigen der Redner_innen verwendet werden, gelten folglich die obigen Ausführungen.

Um der Pathologisierung Betroffener zumindest sprachlich etwas entgegenzusetzen und die begriffliche Nähe zu Sex, dem »biologischen« Geschlecht zu reduzieren, wird im Folgenden der Begriff Intergeschlechtlichkeit verwendet.

Eine Fraktion, vier Redner_innen, drei Verständnisse von Geschlecht

Doch nun zum eigentlichen Schwerpunkt dieses Artikels: den Plenardebatten um die Einführung eines dritten, positiven Geschlechtereintrags »divers« am 11. Oktober und 13. Dezember 2018. Da die Redner_innen in beiden Aussprachen weitgehend deckungsgleich sind und sich die zwischen der 1. und 2./3. Lesung geleistete Arbeit im Innenausschuss im Großen und Ganzen nicht auf das in den Reden vertretene Geschlechterverständnis der sprechenden Mitglieder des Bundestages (MdB) ausgewirkt hat, werden hier beide Debatten trotz des zeitlichen Abstandes gemeinsam behandelt. Größere Fraktion haben gemäß der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages mehr Redezeit, weshalb Mitglieder der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion mehrfach vertreten sind. Möchte man von den Reden Rückschlüsse auf die Geschlechterverständnisse in den Fraktionen ziehen, erlaubt dies natürlich einen differenzierteren Einblick. Nichtsdestoweniger kann davon ausgegangen werden, dass die im folgenden zitierten Fachpolitiker_innen mit der Fraktionsmeinung auch ein mehrheitlich geteiltes Verständnis von Geschlecht zum Ausdruck bringen. Eine Ausnahme bildet hier lediglich die CDU/CSU-Fraktion: deren vier Redner_innen vertreten drei in ihren Grundannahmen verschiedene Verständnisse von Geschlecht.

Pathologisierung vs. Verortung im Subjekt

Grob lassen sich zwei Lager skizzieren: Eines, in dem bio-medizinisch feststellbare, körperliche Merkmale das obendrein konstante, naturhafte und dichotome Geschlecht bestimmen. Die offen dazu in Widerspruch stehende Intergeschlechtlichkeit wird pathologisiert und bestätigt als vermeintlich krankhafte Ausnahme die zweigeschlechtliche Regel. Graduelle Unterschiede zwischen den dieses Bild vertretenden Abgeordneten lassen sich lediglich an ihrem Verhältnis zu Transgeschlechtlichkeit festmachen: während die einen auf die biologische Determiniertheit von Geschlecht beharren und transgeschlechtlichen Identitäten in ausufernder Polemik damit faktisch die Validität absprechen, gibt es auch Vertreter_innen, die eine Trennung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität – im Sinne von Sex und Gender– vornehmen. Diese Logik lässt eine Diskrepanz zwischen dem biologischen und gesellschaftlichen Geschlecht wenigstens als Ausnahme zu.

Das andere Lager verortet Geschlecht direkt im Subjekt. Es ist weder anhand biologischer Kriterien feststellbar, naturhaft noch dichotom. Zur Konstanzannahme über Geschlecht trifft nur eine Vertreterin eine explizite Aussage. Unterschiede zwischen den Vertreter_innen bestehen allerdings darin, in welchem Maße sie auf eine dichotome Geschlechterordnung als Referenzrahmen zurückgreifen. Für manche stehen weitere, nicht-binäre Geschlechter als Kategorie sui generis gleichberechtigt neben Männern und Frauen, für andere konstituiert sich jede weitere Kategorie aus dem Verhältnis zum männlichen oder weiblichen Geschlecht. Einzig und allein dieses Lager verfügt über größere Schnittmengen mit dem Forschungsstand.

Im Weiteren soll das erstere Lager eingehender betrachtet werden. Ihm können Vertreter_innen des konservativen, rechten und extremen rechten Spektrums zugerechnet werden. Sie alle eint der Rückgriff auf Biologismen, beispielhaft in Marc Henrichmanns (CDU/CSU) Annahme, die Zuordnung zu einem männlichen oder weiblichen Geschlecht könne »anhand objektivierbarer medizinischer Kriterien erfolgen« (Deutscher Bundestag 2018b: 5988). Sein Fraktionskollege Michael Kuffer (CDU/CSU) führt aus:

»Es ist wichtig, dass wir [intergeschlechtliche] Menschen rechtlich und auch sprachlich in der Debatte klar von Menschen unterscheiden, die biologisch eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind, sich aber psychologisch, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, dem anderen Geschlecht zurechnen. Ohne jede Diskriminierung, bei allem Verständnis für beide Phänomene [sic!]: Wir müssen diese Menschen, die als transsexuell bezeichnet werden, klar und eindeutig von denjenigen unterscheiden, die wir als intersexuell bezeichnen.« (Deutscher Bundestag 2018c: 8337)

Eine biologistische Sichtweise kann anhand sprachlicher Besonderheiten hervorgehoben werden: während die Möglichkeit der Zuordnung aufgrund biologischer Merkmale im Passiv formuliert ist, was eine gewisse Objektivität suggeriert (»Menschen […], die biologisch eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind« (Zit. s.o.)), wird die nicht-körperliche Komponente von Geschlecht im Aktiv dargestellt: die Menschen rechnen sich aufgrund ihrer Geschlechtsidentität »dem anderen Geschlecht« zu. Diese Aktivsetzung macht Subjektivität kenntlich und impliziert damit eine Hinterfragbarkeit. Die biologische Determiniertheit von Geschlecht wird überdies in der Aufforderung impliziert, die »Menschen, die als transsexuell bezeichnet werden, klar und eindeutig von denjenigen zu unterscheiden, die wir als intersexuell bezeichnen« (Zit. s.o.). Nur diejenigen, die durch bio-medizinische Verfahren objektiv feststellbar intergeschlechtlich sind, sollen ein Anrecht auf den Eintrag »divers« im Personenstandsregister haben – wer nicht nachweisen kann, biologisch weder männlich noch weiblich zu sein, wird nicht ernstgenommen. Es zeigt sich das vermeintliche Primat der Biologie. Der Chefredakteur des Magazins und Nachrichtenportals queer.de kommentiert: »Das lässt sich erneut als klare Absage für einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag für alle verstehen.« (Blech 2018)

Die gedachte Dichotomizität von Geschlecht kann außerdem der Formulierung »[sich dem] anderen Geschlecht zurechnen« (Zit. s.o.). entnommen werden – entweder hat man das eine oder das andere Geschlecht (vgl. Kessler und McKenna 1978, zitiert nach Hirschauer 1994: 672).

Hinter dem von Kuffer verwendeten Begriffspaar »Geschlecht« und »Geschlechtsidentität«, das analog zu Sex und Gender aus der Frauen- und Geschlechterforschung der 1980er-Jahre verwendet wird, verbirgt sich – von der demonstrativen Sachlichkeit der beiden Unionsabgeordneten abgesehen (vgl. Michael Kuffer in Deutscher Bundestag 2018c: 8337) – auch der Unterschied zu den Vorstellungen der anderen MdB des ersten Lagers.

»Die Parallelen zu antisemitischen Bildern kommen nicht von ungefähr«

Statt überhaupt die Möglichkeit der Relevanz im Subjekt verorteter Determinanten für Geschlecht als Ausnahme zuzulassen – wie bei Kuffers Definition von Transgeschlechtlichkeit als Diskrepanz von Sex und Gender (vgl. Ebd.) –, deutet Beatrix von Storch (AfD) Geschlecht als »ein angeborenes biologisches Schicksal«, nicht die »Lifestyleentscheidung verwirrter Akademiker« (Deutscher Bundestag 2018b: 5989).

Die auffallende Polemik der extremen Rechten folgt einer Agenda: mit Kampagnen gegen den »Genderismus« sucht die AfD seit ihrer Gründung den Schulterschluss mit anderen Akteur_innen aus Wissenschaft und Journalismus, Politiker_innen der »Volksparteien«, antifeministischen Männerrechtsgruppen als auch radikalen Abtreibungsgegner_innen und christlich-fundamentalistischen Gruppen (vgl. Lang 2017b). Die von Politiker_innen der AfD vertretene antifeministische Lesart von Gender hat wenig mit dem eigentlichen Begriff zu tun: demnach seien Gender und Geschlechterpolitik »Ideologie« oder ein bürokratisches Instrument mit dem Ziel, ein ursprünglich intaktes, gesellschaftliches Gefüge von innen her zu ersetzen (vgl. Lang 2017a: 68). Konkrete geschlechterpolitische Grundsätze wie das der Gleichstellung dienende Gender Mainstreaming werden genutzt um eine Bedrohungskulisse der Gleichschaltung zu entwerfen, mit dem Ziel, Geschlechtergerechtigkeit als politisches Ziel zu diskreditieren (vgl. Frey u. a. 2014: 34 ff.). Die Rede der seit ihrem Parteiaustritt zu Beginn der 19. Wahlperiode fraktionslosen ehemaligen Parteivorsitzenden Frauke Petry überrascht deshalb nicht im Geringsten:

»Intersexualität ist Biologie, Transsexualität Psychologie. Unter dem Deckmantel ›divers‹ tarnt sich daher der nächste Schritt. Diese Strategie der Ideologen, mit kleinen Schritte [sic] vorzugehen, kennen wir. […] Der Streit um die Belange […] von einigen Tausenden hat mehr Gewicht als die Sorge von Millionen Vätern oder Müttern.« (Deutscher Bundestag 2018c: 8338)

Für Juliane Lang ist das mehr als nur Populismus: »Die Parallelen zu antisemitischen Bildern einer Bedrohung der gedachten Gemeinschaft durch einen inneren Feindkörper scheinen nicht von ungefähr« (vgl. 2017a: 68). Dem Ausspielen von Minderheiten gegen die Mehrheitsgesellschaft wohnt darüber hinaus ein zutiefst antidemokratisches Moment inne: statt Minderheitenrechte zu schützen, wie es das Verständnis der liberalen Demokratie gebietet, wird suggeriert, dass die »Belange einiger Tausender« den Interessen »von Millionen Vätern und Müttern« entgegenlaufen. Das Narrativ von Gender als Ideologie und Gefahr für die (Volks-)Gemeinschaft (vgl. Ebd.: 66) findet sich auch in von Storchs (AfD) Rede:

»Das ist das Ziel linker Genderideologen. Sie wollen das Geschlecht dekonstruieren, genauso wie sie Familien dekonstruieren oder – man kann auch sagen: – zersetzen wollen. Medizin und Wissenschaft sind Ihnen im Weg.« (Deutscher Bundestag 2018c: 8332)

Der darin konstruierte Widerspruch zwischen der Dekonstruktion von Geschlecht und »Medizin und Wissenschaft« verweist auf die vermeintliche Zuordenbarkeit von Geschlecht mithilfe bio-medizinischer Untersuchungen und reproduziert die Annahme von Geschlecht als naturhaft. Die vermeintliche Dichotomizität betont Petry in ihrem Vorwurf, die Unionsfraktion »untergrabe« mit ihrem Gesetzentwurf »die Schöpfung der beiden Geschlechter als Mann und Frau« (Deutscher Bundestag 2018c: 8338).

In Abgrenzung zu den vergleichsweise moderaten Vertretern dieses Lagers machen Petry und von Storch die Pathologisierung intergeschlechtlicher Menschen explizit. In von Storchs Aussage, intergeschlechtliche Menschen brauchten »Hilfe, mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin, zum Beispiel mit Hormontherapien gegen körperliche Leiden« (Deutscher Bundestag 2018b: 5989) wird außerdem die Normierung dichotom nicht zuzuordnender Menschen angeregt. Man sieht: »Die Normalität wird sozial, moralisch (z. B. ›richtig‹ und ›gut‹), ästhetisch (z. B. ›harmonisch‹) etc. aufgeladen und darüber zur ›gesunden‹ Entwicklung erklärt« (vgl. Klöppel 2010: 100ff., zitiert nach Gildemeister und Hericks 2012: 289).

Die trotz alldem bestehende grundsätzliche Einigkeit dieses Lagers wird beispielhaft in einem Vergleich Henrichmanns (CDU/CSU) zu Beginn der zweiten Aussprache. Um die Naturhaftigkeit von Geschlecht zu unterstreichen, erwähnt dieser den Fall eines niederländischen Mannes, der gegen sein rechtliches Alter von 69 Jahren geklagt habe. Für diesen auf die Diskreditierung der subjektiv empfundenen Geschlechtsidentität zielenden Vergleich ist Heiterkeit des Abgeordneten Jürgen Braun aus den Reihen der AfD-Fraktion im Protokoll verzeichnet – alle anderen Fraktionen blieben still (vgl. Deutscher Bundestag 2018c: 8331).

Zwischen den Lagern

Ein wenig zwischen den Lagern befindet sich Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU). Sie hat die Logik biologischer Determiniertheit bzw. von Naturhaftigkeit von Geschlecht nach dem Stufenmodell übernommen, nicht jedoch die Dichotomizitätsannahme:

»Ein Mensch wie du und ich, aber ohne Geschlecht – weil die Merkmale, die vorgesehen sind, nicht richtig sind –, das geht nicht. Jeder Mensch hat ein Geschlecht, auch wenn sich der Chromosomensatz von 99 Prozent der Bevölkerung unterscheidet. So vielfältig ist die Natur, und so ist es gut« (Deutscher Bundestag 2018b: 5994 f.)

Die Implikation, für ein spezifisches Geschlecht seien auch immer spezifische Merkmale vorgesehen und die Verknüpfung von Geschlecht und Chromosomensatz als bestimmendes körperliches Merkmal sind zwar klar biologistisch, mit ihrem Verweis auf die Vielfältigkeit der Natur und der Aussage, dass jeder Mensch ein Geschlecht habe, unabhängig vom Grad der Übereinstimmung des Chromosomensatzes mit dem Rest der Bevölkerung, löst Wiesmann mit Beibehaltung der Annahme von Naturhaftigkeit die der Dichotomizität auf. Zur Konstanzannahme lassen sich in ihrer Rede dafür keine klaren Aussagen finden.

Auffallend ist aber, dass sie die in einem offenen Brief der Bundesvereinigung Intersexuelle Menschen e.V., der Bundesvereinigung Trans*und des Lesben- und Schwulenverband in Deutschland u.a. geforderte Beratungslösung, der zufolge es ausreichen sollte, anstatt einer entwürdigenden ärztlichen Untersuchung ein Beratungsgespräch zu den Folgen der Änderung des Geschlechtereintrags vorzuweisen (vgl. Intersexuelle Menschen e.V. Bundesverband u. a. 2018), klar favorisiert – wie auch die Vertreter_innen des zweiten Lagers.

Hinter dem neuen Registereintrag »divers« steckt mehr als nur ein drittes Geschlecht

Nun zum zweiten, vergleichsweise weitaus homogeneren Lager. Alle hierunter subsummierten Abgeordneten vertreten ein Verständnis von Geschlecht, das nicht biologisch determiniert, sondern auch im Subjekt verortet ist. Für sie ist – analog zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes – die Geschlechtsidentität ein begrifflicher Angelpunkt, nicht das vermeintliche biologische Geschlecht. Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen) führt beispielsweise aus: »Über seinen Körper, seine Sexualität und sein Geschlecht kann es nur einen geben, der darüber bestimmt, nämlich jeder Mensch selber.« (Deutscher Bundestag 2018b: 5994)

Auch der Dichotomizitätsannahme wird eine klare Absage erteilt. Das macht Elisabeth Kaiser (SPD) wie auch fast alle anderen dieses Lagers mit der Feststellung, dass es auch »Menschen, deren geschlechtliche Identität sich außerhalb des binären Systems befindet [gibt]« (Ebd.: 8333), am Anfang ihrer Rede klar. An dieser Stelle zeigt sich auch das für eine Fraktion breite Spektrum an Welt- und Geschlechterbildern der CDU/CSU-Fraktion. Der ihr angehörende Abgeordnete Volker Ullrich weist beispielsweise darauf hin, dass es in der Debatte um einen weiteren positiven Geschlechtseintrag nicht um die Akzeptanz eines dritten Geschlechts gehe, sondern um viel mehr:

»Es ist viel davon gesprochen worden, dass es um das sogenannte dritte Geschlecht gehe. Das ist eigentlich ein falscher Begriff. Der Gesetzentwurf erschöpft sich nicht in einem dritten Geschlecht, sondern es geht um die Anerkennung von Vielfalt und darum, dass Menschen sich im Personenstandsregister nicht diskriminieren lassen müssen. Es geht um die Verwirklichung von Grundrechten.« (Ebd.: 5996)

Mit dem Verweis auf die die geschlechtliche Vielfalt hinter dem Registereintrag »divers« löst sich der Abgeordnete nicht nur von der Zweigeschlechtlichkeit, implizit wird auch klar, dass er Geschlecht als nicht naturhaft und damit an körperliche Merkmale gebunden betrachtet. Ein weiteres Indiz dafür ist die konsequente Verwendung des Terminus geschlechtliche Identität – von »biologischem Geschlecht« ist kein einziges Mal die Rede. Dass Geschlecht auch nicht konstant sein muss, sondern »aufgezwungen und wandelbar sein kann« macht Doris Achelwilm (Die Linke)  jedoch als einzige wirklich explizit klar (vgl. Deutscher Bundestag 2018c: 8336).

Unterschiede in diesem Lager zeigen sich in der Art, wie sie auf das Zweigeschlechtersystem als Referenzrahmen zurückgreifen. Manche der MdB stellen lediglich fest, dass die im Personenstandsregister zukünftig unter »divers« kategorisierten Menschen weder männlich noch weiblich sind, beispielsweise die Sozialdemokratin Susann Rüthrich:

»[S]obald ein Mensch entsteht, wird er einsortiert: Junge oder Mädchen? Es werden aber Kinder geboren, die nicht in diese Schublade passen.« (Deutscher Bundestag 2018b: 5995)

Jens Brandenburg (FDP) konkretisiert sein Bild von Geschlecht als Spektrum mit zwei Polen als einziger, wenn er von »Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale […] nicht eindeutig den beiden »biologischen« Hauptkategorien männlich oder weiblich zuzuordnen sind« (Ebd.: 5992) spricht. Das kommt Sigrid Schmitz’ Vorstellung von Geschlecht als »Kontinuum mit polarisierter Entwicklung« (2006: 40) am nächsten.

Klar geeint ist dieses Lager letztlich in seiner klaren Abgrenzung von den oben genannten Akteurinnen der extremen Rechten. Einige sehen sich sogar gezwungen, explizit klarzustellen, dass Intergeschlechtlichkeit keine Krankheit ist (vgl. Sven Lehmann in Deutscher Bundestag 2018b: 5994, Jens Brandenburg in 2018c: 8334 u.a.).

Ein Vierteljahrhundert später setzt sich die Erkenntnis durch

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Lager, die sich beim Vergleich der Geschlechterverständnisse abzeichnen, den_die politisch interessierte_n Beobachter_in wohl keinesfalls überrascht haben. Ein Erklärungsversuch dafür wäre die von rechten und extrem rechten Akteur_innen und Medien wie der Wochenzeitung »Junge Freiheit« im Jahre 2006 losgetretene Desinformationskampagne um den Begriff Gender, hinter der sich ein Kampf um Deutungshoheit und der Versuch, Anschluss in Richtung der gesellschaftlichen Mitte zu finden, stehen (vgl. Lang 2017a: 70, 2017b). Der Erfolg und die Strahlkraft ins konservativ-rechte Politikspektrum zeigte sich nicht nur in der Übernahme von Kampfbegriffen wie »Gender-Ideologie«, beispielsweise durch die CSU (vgl. ZEIT ONLINE 2017), sondern auch in darin, dass Politiker_innen wie Marc Henrichmann oder Michael Kuffer (beide CDU/CSU-Fraktion) in ihrem Geschlechterverständnis klar in einem Lager mit (ehemaligen) AfD-Politiker_innen zu verorten sind. So kam es, dass entgegen jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnisse der letzten Jahre vier bis fünf Abgeordnete in dieser Plenardebatte das antiquierte Bild einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft verfolgten. Hervorzuheben ist die extreme Heterogenität innerhalb der Unionsfraktion. Vier ihrer Abgeordneten waren sich in ihren drei Verständnissen von Geschlecht ferner als die Fachpolitiker_innen der FDP-, Grünen-, Links- und SPD-Fraktion. Es mag schon etwas dran sein, wenn Fabian Henning schreibt, dass die CDU unter Angela Merkel und Ursula von der Leyen ihre christdemokratische Familienpolitik der Wirklichkeit angepasst hat (vgl. 2016). Das steht auch nicht zwingend im Widerspruch mit einem per Definition stets kontextabhängigen konservativen Selbstverständnis. Ein Vierteljahrhundert nachdem Stefan Hirschauer die soziale Konstruiertheit der Geschlechterdifferenz als soziologischen Common Sense postulierte, scheint diese Erkenntnis den antiaufklärerischen Medienkampagnen der Neuen Rechten zum Trotz auch bei der größten konservativen Partei angekommen zu sein.

Literatur- und Quellenverzeichnis

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