Obdachlosenfeindliche Architektur in Berlin und IFG-Anfragen über Twitter

»Wenn eine Behörde twittern kann, sollte sie dort auch Bürger_innenfragen beantworten können.« Über den ungewöhnlichen Weg einer IFG-Anfrage zu obdachlosenfeindlicher Architektur in Berlin.

Obdachlosenfeindliche Architektur in Berlin und IFG-Anfragen über Twitter
tl;dr:
  • Eine Pressesprecherin der BVG bezeichnet obdachlosenfeindliche Architektur als eine Verschwörungstheorie.
  • Mit der Beantwortung meiner IFG-Anfrage hat die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe einen Präzedenzfall für IFG-Anfragen über Twitter geschaffen.

Am vergangenen Donnerstag entdeckte der Twitter-Nutzer @andreasdotorg neue Sitzbänke an der Tram-Haltestelle Alexanderplatz. Deren Gestaltung reiht sich ziemlich eindeutig in den »Trend« sogenannter defensiver Architektur ein. Das ist ein Euphemismus dafür, Obdachlosen mithilfe von Stahlspitzen, Metallwellen oder Gittern Aufenthalts- und Schlafmöglichkeiten im öffentlichen Raum zu nehmen und sie so aus dem Stadtbild zu verdrängen. Beim fluter gibt es eine kurze Fotostrecke mit Beispielen dafür.

Das nahm ich zum Anlass, um per Informationsfreiheitsgesetz (IFG)-Anfrage an offizieller Stelle nachzuhaken. Weshalb wurde entschieden, die neuen Bänke zu montieren? Gibt es Schriftwechsel diesbezüglich?

Einer meiner Hintergedanken beim Stellen dieser Anfrage war, dass es doch ein Dokument geben müsse, in dem die Vorzüge dieser neuen Bänke gegenüber derer ohne Armlehnen aufgeführt sind. Gäbe es das und würde darin expliziert, dass die Bänke verhindern, dass sich auf der Straße lebende Menschen darauf niederlassen, hätte man ein sozialpolitisches Argument gegen weitere dieser Bänke. Obwohl sie Obdachlosen schon jetzt das Leben schwerer machen, als es ohnehin schon ist.

Da ich mir nicht sicher war, ob die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) auch für die Bänke an den Haltestellen zuständig sind, beschloss ich, die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe (SenWiEnBe) zu fragen. Zweifelsohne lag meine Frage in ihrem Geschäftsbereich und falls sie nicht direkt zuständig sind, sind sie verpflichtet, meine Anfrage »unverzüglich an die zuständige Stelle weiterzuleiten«.

IFG-Anfragen über Twitter

Anders als bei meinen bisherigen IFG-Anfragen wollte ich diesmal nicht mithilfe der großartigen Plattform FragDenStaat nachfragen, sondern direkt bei Twitter. Das Schöne am Informationsfreiheitsgestz ist nämlich, dass Anträge »schriftlich, mündlich oder elektronisch« gestellt werden können (vgl. § 13 Abs. 1 IFG Berlin, § 7 Abs. 3 IFG (Bund)). Eine Technologie, die bei der elektronischen Antragstellung verwendet werden muss, wird nicht benannt.

Da es meinem geschätzten ehemaligen Arbeitskollegen Mathias Schindler bereits beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geglückt war, eine IFG-Anfrage über Twitter zu stellen, wollte ich meine Fragen diesmal auch direkt mit dem ursprünglichen Diskursmedium zu stellen. Damit sollte die Möglichkeit einer bürgerfreundlichen, einer digitalen Gesellschaft gerecht werdenden Auslegung des IFG getestet werden.
Wenn eine Behörde twittern kann, sollte sie dort auch Bürger_innenfragen beantworten oder wenigstens entgegennehmen können.

Bereits 14 Stunden später, am darauffolgenden Freitag bekam ich eine Direktnachricht vom Twitter-Account der SenWiEnBe: Es müsse erstmal geprüft werden, ob mein Antrag formal zulässig sei und man brauche meine Kontaktdaten dafür. Was mir hier positiv auffiel: Im Gegensatz zum Bundesinnenministerium (BMI), das bisher ausschließlich per Briefpost mit mir kommunizierte, möchte die SenWiEnBe nur meine E-Mail-Adresse haben.

Screenshot: Twitter-Direktnachrichten mit der SenWiEnBe

Ein Wochenende verging und schon hatte ich eine E-Mail vom stellvertretenden SenWiEnBe-Pressesprecher in meinem Posteingang: sein Haus führe zu dem Sachverhalt keine Akten. Spannend daran sind zwei Dinge:

  1. Mit dem stellvertretenden Pressesprecher hat mir jemand aus der Stabsstelle für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit geantwortet und nicht, wie eigentlich üblich, jemand aus dem IFG- oder eGov-Referat des Ministeriums. Gut möglich, dass meine bei Social Media gestellte Anfrage aufgrund ihres öffentlichen Charakters unter Federführung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeits-Abteilung oder mit der Priorität einer Presseanfrage beantwortet wurde. Das würde die überaus geringe Bearbeitungszeit von nur zwei Werktagen erklären.
  2. Diese E-Mail ist die Bestätigung dafür, dass IFG-Anträge an die SenWiEnBe über Twitter formal zulässig sind. Mit diesem negativen Bescheid, einer offiziellen Antwort auf meine IFG-Anfrage, wurde ein Präzendenzfall für weitere IFG-Anfragen an die SenWiEnBe über Twitter geschaffen. Ich wünsche euch also viel Erfolg mit euren Anfragen per Tweet!
Diese E-Mail ist der Beweis: IFG-Anträge an die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe über Twitter sind formal zulässig.

Keine Akten in dieser Verwaltung? Kein Problem.

Dass im Ministerium keine Dokumente oder Akten zu dem Vorgang geführt werden, ist keine so abschließende Antwort, wie es auf den ersten Blick scheint. Schließlich heißt es in Paragraph 13 des Gesetzestextes:

(1) […] Sofern dem Antragsteller oder der Antragstellerin Angaben zur hinreichenden Bestimmung einer Akte fehlen, ist er oder sie durch die öffentliche Stelle zu beraten und zu unterstützen. Wird ein Antrag schriftlich oder elektronisch bei einer unzuständigen öffentlichen Stelle gestellt, so ist diese verpflichtet, den Antrag unverzüglich an die zuständige Stelle weiterzuleiten und den Antragsteller oder die Antragstellerin entsprechend zu unterrichten.

In einer weiteren E-Mail habe ich also darum gebeten, genau das zu tun: mich entweder dabei zu unterstützen, die Akte zu finden, mit der meine IFG-Anfrage (»Weshalb wurde entschieden, Sitzbänke mit Anti-Obdachlosen-Armlehne zu montieren? […]«) beantwortet werden kann, oder meine Anfrage an die zuständige Stelle weiterzuleiten.

Keineswegs eine Verschwörungstheorie

Nun ging es für IFG-Verhältnisse geradezu rasend schnell. Eineinhalb Stunden nachdem ich mit meiner Bitte um Weiterleitung an die zuständige Stelle geantwortet hatte, bekam ich eine ungehaltene, mit einigen Rechtschreibfehlern versehene E-Mail von einer der BVG-Pressesprecher_innen. Zu den Sitzgelegenheiten gäbe es weder Akten noch irgendwelche Verschwörungen gegen Obdachlose, ließ sie mich wissen. Es sei einfach so, dass der »heutige Mensch« sehr gerne seinen eigenen Platz habe. Mit einer Armlehne säße es sich besser, dies gehe vor allem Frauen und älteren Menschen so.

Fair enough. Dass ältere Menschen besser aufstehen können, wenn eine Armlehne zum Abstützen da ist oder Frauen auf einer Sitzbank mit Armlehnen-Konstruktion beispielsweise nicht durch Manspreading gestört werden, streitet sicher niemand ab. Mir als Anfragensteller eine Verschwörung in den Mund zu legen, ist für meinen Geschmack dennoch etwas zu hoch gegriffen. Sitzbänke mit vielen Armlehnen sind ein vielzitiertes Beispiel defensiver Architektur: ob in der Berliner Morgenpost, im Deutschlandfunk oder dem FAZ-Feuilleton.

Darüberhinaus ist in der Antwort-Mail noch von einer Sitzplatz-Ausstellung von 2012 am Alexanderplatz die Rede, bei der Fahrgäste mehrere neue U-Bahnsitze testen und über deren Anschaffung miteintscheiden konnten (u.a. berichtete der Tagesspiegel). Hier präferierten die Tester_innen die Sitzschalen, die sich deutlich vom Nebenplatz abgrenzen. Ob die Ergebnisse dieses Tests einziges Kriterium für die Entscheidung waren, eines der wohl bekanntesten Beispiele defensiver Architektur an Berliner Tramhaltestellen einzuführen, sei mal dahingestellt.

Rückblickend muss ich allerdings auch eingestehen, dass das Framing in meiner Anfrage zwar gut geeignet für Soziale Netzwerke, nicht aber für Kommunikation mit öffentlichen Stellen ist. Das war mit Sicherheit ein Grund für die heftige Reaktion der Pressesprecherin.

Fazit

So bedauernswert und unprofessionell ich den Stil der Pressesprecherin in ihrer Antwort finde – Transparenz in Verwaltung und öffentlichen Betrieben ist in meinen Augen schließlich ein Weg zur Stärkung von Akzeptanz und Vertrauen der Bevölkerung –, so schön ist die Art, auf der sie zu mir gelangte. Mit der Bearbeitung meiner Anfrage per Twitter und E-Mail gibt es zwar einen Bruch zwischen den verwendeten Technologien, das ist aber kein Vergleich mit den Briefkonversationen, die ich mit dem BMI führe.

Außerdem habe ich mit meiner Anfrage einen Präzedenzfall geschaffen. Von nun an kann sich jede_r darauf berufen, dass die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe schon einmal einen per Twitter gestellte IFG-Antrag beantwortet hat. Je mehr dieser Fälle es gibt, desto bürger_innenfreundlicher wird das IFG.

Jetzt seid ihr an der Reihe: welche öffentlichen Stellen antworten noch auf IFG-Anfragen per Twitter? Finden wir es gemeinsam heraus. Schreibt mir gerne, wenn ich eine Behörde oder einen öffentlichen Betrieb in meine Liste aufnehmen kann.

Artikelbild mit freundlicher Genehmigung von @andreasdotorg.


In eigener Sache

Wenn ihr bis hier gelesen habt, möchte ich noch einen Werbeblock in eigener Sache unterbringen. Vor einigen Wochen habe bei einer Recherche herausgefunden, dass die Bundespolizei bis mindestens ins Jahr 2013 Auslandsstationen der Deutschen Lufthansa geschützt hat. Diese Information stellte sich als bisher wenig beachtet heraus, um nicht zu sagen, dass man keine öffentliche Berichterstattung dazu findet. Das habe ich zum Anlass genommen, eine IFG-Anfrage an das Innenministerium zu stellen, in der ich die Details dazu abgefragt habe. Unter anderem, welche Fluggesellschaften noch Schutz durch die Bundespolizei genossen, an welchen Standorten das der Fall war und welche Behörden beteiligt waren.

Bedauerlicherweise beziffert das BMI die Kosten für eine Antwort auf circa 380 €. Deshalb habe ich ein Crowdfunding bei FragDenStaat gestartet, damit IFG-Auskünfte nicht abhängig vom Portemonnaie der Fragenden bleiben.