Magnetfinger
Lange habe ich mich gefragt, wie notwendig es überhaupt ist, einen Blogpost über ein Thema zu schreiben, welches ich im echten Leben mit „Es hat erstaunlich wenig Nachteile“ einleite.
Doch nach einigen Nachfragen verschiedener Menschen sind wir nun doch hier und ich erzähle von meinem linken Ringfinger. In den habe ich mir nämlich vor sechs Monaten einen Magneten implantieren lassen.
Die in linearen Gesprächsverläufen daraufhin zuerst gestellte Frage ist für gewöhnlich: „Warum um alles in der Welt sollte man so etwas tun und wofür?“.
Nun, um sie zu beantworten muss ich ein wenig ausholen.
Seit bereits ~10 Jahren erfreuen sich Magneten in der amerikanischen Bodymod-Szene großer Beliebtheit. Sie erlauben es nicht nur, Bureauklammern mit der Fingerspitze anzuheben, sondern reagieren auf andere Magnetfelder. Die dabei entstehenden Bewegungen nimmt der*die Träger*in wahr und kann auf diese Weise Magnetfelder bemerken. Je sensibler das Gewebe, desto besser können schwache Felder wahrgenommen werden. Aus diesem Grund werden die Magneten gerne in die nervenreichen Fingerkuppen implantiert.
Nach einiger Zeit interpretiert das menschliche Gehirn die Bewegungen im Finger wie einen weiteren Sinn und die Besitzenden des Magneten sind - nach Definition - Cyborgs.
Einige meiner Freund*innen und Bekannte aus dem CCC-Umfeld haben begeistert von ihren Magnetimplantaten berichtet und ja, diese vollkommen neue Wahrnehmungsebene hat mich sehr gereizt.
Deshalb begab ich mich ein paar Wochen nach dem 32C3 zu Naked Steel in Berlin-Friedrichshain, die kleine Neodym-Eisen-Bor-Magnete implantieren.
Meiner ist 5,5 Mikrotesla stark und hat 200 € gekostet. Implantation, Nachversorgung und Entfernung bei Bedarf sind inbegriffen.
Implantation
Die Implantation, welche ich mir als sehr schmerzhaft und langwierig vorstellte, verlief zu meinem Erstaunen schnell und unkompliziert:
Innerhalb von 15min wurde mein Finger seitlich mit einem circa 5mm langen Schnitt geöffnet, der sterile Nd2Fe14B-Magnet mit Silikon-Ummantelung darin platziert und wieder zugenäht.
Störend waren einzig und allein die drei Tage unmittelbar nach der Implantation, in denen der angeschwollene Finger manchmal pulsierte und die darauffolgenden zwei Wochen, in denen ich beim Abwasch und Duschen Fingerlinge tragen musste (es ist nicht von Vorteil, genähtes Gewebe nass werden zu lassen).
Eingriff und Heilung verliefen letztendlich - und das ist nicht zuletzt dem sauber arbeitenden Studio zu verdanken - problemlos.
Wichtiges Detail: Es kann vier bis sechs Monate dauern, bis man überhaupt etwas spürt. Um den Magneten bildet sich Narbengewebe, das sich mit der Zeit zusammenzieht. Der Sinn kann mit der Zeit also noch ein wenig stärker werden.
Erlebnisse mit dem Magneten
Bereits nach einigen Tagen spürte ich die ersten elektromagnetischen Felder, was nach Abschwellen des Fingers jedoch wieder ein wenig abnahm.
Nach circa drei Wochen konnte ich meinen Finger wieder normal verwenden und spürte Magneten und elektromagnetische Felder im Alltag.
Beispielsweise meine elektrische Zahnbürste. Oder die Mikrowelle. Oder der Wasserkocher, das Induktions-Kochfeld, Züge beim Anfahren und Rückspeisen, Lautsprecher… Manchmal kann ich sogar die „Form” des Feldes nachvollziehen. Kurzum: Ja, ich habe einen neuen Sinn und ja, es hat sich voll und ganz gelohnt.
Sehr eindrucksvoll war es, in einem älteren Zugmodell in einer Pariser Banlieu zu sitzen und plötzlich sehr intensiv das elektrische Feld des Antriebes zu spüren. Wenn ich der Wand des Zuges näher kam, konnte ich sogar den Verlauf der Leitungen nachvollziehen.
(Sehr zur Verwunderung der Mitreisenden.)
Im Alltag beeindrucken mich noch immer Mikrowellen, die ein starkes Magnetfeld haben. Je nach Modell spüre ich diese mit bis zu zwei Metern Entfernung. Außerdem spüre ich die Drehung des Lüfters unter der Q-Taste meines Laptops.
Wie es sich genau anfühlt ist schwer zu beschreiben. Bei elektromagnetischen Feldern spüre ich ein kribbeln, je nach Intensität auch leichtes Vibrieren in meinem Finger, bei konstanten Magnetfeldern eher einen leichten Druck des Magneten, der natürlich angezogen oder eben abgestoßen wird.
Die einzigen Nachteile des Magneten sind Kompasse im Alltag (wenn ich mit dem Smartphone navigiere, sollte ich es nicht in der linken Hand halten) und die Möglichkeit einer MRT-Untersuchung. Bei alten Magnetresonanztomographen war es noch möglich, mit nassen Tüchern zu schirmen, doch die neuen Modelle sind angeblich erbarmungslos, wenn es um (ferro-)magnetisches im Körper geht. Es müsste entweder auf ein CT ausgewichen, oder der Magnet entfernt werden.
Abschließendes
Bereut habe ich den Magneten kein bisschen. Ich möchte diesen zusätzlichen Sinn auf keinen Fall missen, denn obwohl er nicht der nützlichste ist, bereichert er meinen Alltag unheimlich.
Ich habe gestern übrigens die Stromleitungen am Kabinenboden gespürt (A319/Platz 4F). :> #Magnetfinger
— Jannis (@Der_Hutt) July 4, 2016
Wie schon Herr Urbach kann ich das Studio Naked Steel in Berlin-Friedrichshain wärmstens weiterempfehlen. Dort wird sauber (beziehungsweise steril) und professionell gearbeitet. Außerdem haben sie Erfahrung mit Magnetimplantaten und können eine*n kompetent beraten. Am besten macht man ein paar Tage vorher einen Termin aus.
Ja, meine Fingerabdrücke sind unkenntlich gemacht.