Joylent

Die Dystopie einer Welt, in der es nicht mehr genügend Nahrungsmittel für alle Menschen gibt, ist schon ziemlich alt. Schon der Film Soylent Green (Deutsch: "… Jahr 2022 … die überleben wollen") hat eine solche Situation problematisiert. Die Lösung waren damals schon Nahrungspräparate, die alle Nährstoffe enthalten, welche ein Mensch nun mal zum Leben braucht - Soylent.

Gut, zugegebenermaßen enthielt das dort verteilte Soylent Grün - *Spoiler* - Menschen. Einen Plot-Twist musste der Film schließlich haben. Doch die Idee hat sich gehalten. Im Jahr 2013 griff sie der Software-Entwickler Rob Rhinehart in einem Selbstversuch auf und entwickelte über einen Monat hinweg ein Nährstoffpulver, das alle nötigen Nährstoffe enthalten sollte. Er nannte es Soylent und veröffentlichte das Rezept unter der Open Source-Lizenz - für jede*n zugänglich und nutzbar.

Das von ihm entwickelte Soylent schmeckte zwar nicht besonders gut, dafür erschütterte es das Bild von "gesundem" Essen nachhaltig: Gesund ist nicht länger Obst und Gemüse, gesund sind die Proteine, Kohlenhydrate, Ballaststoffe, Fette, Mineralstoffe, Vitamine, einige pflanzliche Stoffe und Antioxidantien, die wir zu uns nehmen müssen. Und welche das sein müssen, hat die Wissenschaft schon längst herausgefunden.

Klar erfüllt Essen neben der Nährstoffversorgung des Menschen noch weitere Funktionen, beispielsweise eine soziale Komponente: Zusammen kochen und essen ist wichtig, doch nicht jede Mahlzeit erfüllt diesen Zweck, vor allem nicht, wenn der Kalender viel zu eng getaktet ist und so gar keine Zeit dafür bleibt.
In solchen Fällen greifen Menschen gerne zu sogenannten Convenience Foods, bequemem Essen, welches schnell zubereitet ist und einzig und allein die Aufgabe der Nährstoffversorgung übernimmt. Wie auch Soylent.

Rob Rhineharts Soylent versprach ein gesundes Convenience Food zu sein und vielleicht war das auch einer der Gründe, weshalb er so 755.000 Dollar für seine Firma per Crowdfunding sammelte - sie stellt Soylent nun industriell und in großen Mengen her.

Doch dank der OpenSource Lizenz gab es zahlreiche Forks, also Weiterentwicklungen unter neuem Namen, die entweder den Geschmack, die Inhalte, oder beides verändert haben.
Eine dieser Weiterentwicklungen habe ich in der letzten Arbeitswoche getestet: Joylent.

Hinter Joylent steckt eine niederländische Firma, die sich vor allem eines auf die Fahnen geschrieben hat: den Geschmack drastisch zu verbessern. Deshalb gibt es auch gleich fünf verschiedene Geschmacksrichtungen: Vanille, Banane, Schokolade, Erdbeere und Mango.
Um meinen Selbstversuch zu starten habe ich deshalb fünf Beutel jeder Geschmacksrichtung für 30 Euro bestellt. Ein Beutel entspricht der Nährstoffmenge von drei vollwertigen Mahlzeiten - also einem Tag. Mit 15 Mahlzeiten für je 2 Euro war meine Ernährung so überaus preiswert - eine gelungene Alternative also für faule und arme Student*innen? Wir werden sehen.

Who put the "joy" into "joylent"?
Ein Selbstversuch.

Mein erster Tag beginnt etwas unbeholfen. Nach fünf Minuten des Rätselns entdecke ich, dass auf der in meine Bestellung inkludierten Flasche steht, wie viel von dem Wunderpulver ich brauche - 172 Gramm. Das wird mit Wasser gemischt. Auf Gutdünken ziehe ich eine Packung aus dem Karton - Erdbeere - befülle mit einem Drittel ihres Inhalts die Flasche, gebe Wasser dazu und schüttle. ![Joylent mit Wasser](/content/images/2016/02/IMG_0205.JPG)Es hätte auch besser aussehen können.

Darauf folgt mein erster Schluck.
Stellt euch fein pürierte Haferflocken mit wässriger Konsistenz und der Nuance eines Hauches eines diffusen Geschmacks vor - ungefähr so schmeckt Joylent.
Ich trinke meine Flasche vollkommen aus und gehe in Richtung U-Bahn. Nach ein paar Minuten merke ich, dass ich satt bin. Einfach so. Nicht überfüllt, einfach angenehm gesättigt und mit Nährstoffen versorgt. Es ist eine interessante erste Erfahrung trotz eines vergleichsweise leeren Magens satt zu sein.

Tag zwei, neun Uhr, hunderzweiundsiebzig Gramm Joylent, fünfhundert Milliliter Wasser. Heute probiere ich die Geschmacksrichtung Schokolade aus und bin nur dürftig überrascht, dass es nicht wie Schokolade schmeckt. Immerhin schmeckt es besser als Erdbeere. Ich gehe an die Arbeit.
Gegen 14:00 Uhr macht sich ein Loch in meinem Magen bemerkbar und so bereite ich mir meine Ration Soylent zu.
Pulver in die Flasche, Wasser dazu, schütteln, fertig. Zeitsparend ist es ja, doch ich schiele ein wenig neidisch herüber zum Herd, auf dem meine Kolleg*innen kochen. Hilft ja nichts. Heute habe ich nur Soylent mit Erdbeergeschmack dabei und wenige Minuten nachdem ich es geschluckt hatte, war ich selbst über meinen verschwundenen Futterneid erstaunt.


Tag drei, neun Uhr dreißig, hunderzweiundsiebzig Gramm Joylent, fünfhundert Milliliter Wasser.
An die Konsistenz und den Geschmack habe ich mich gewöhnt, vor allem Vanille erscheint mir plötzlich als sehr authentisch. Auch Mango, das ich am Mittag probiere ist ganz interessant, obschon es hier einen merklichen Geschmacksunterschied gegenüber des Originals gibt.
Langsam aber sicher wird Joylent zu einer echten Alternative zu fester Nahrung, so glaube ich.


Tag vier, acht Uhr dreißig, hunderzweiundsiebzig Gramm Joylent, fünfhundert Milliliter Wasser.
So langsam schmeckt es mir. Gleichzeitig sehne ich mich nach etwas zum Kauen, denn Flüssignahrung zu schlucken ist alles andere als befriedigend.
Dafür ist das Sättigungsgefühl ein ganz anderes als bei traditioneller Nahrungsaufnahme: Statt stärkeren Blutzuckerschwankungen und den Zuständen "sehr satt" bis "ach, ich könnte schon wieder…" hält mich Joylent auf einem konstanten und angenehmen Sättigunglevel. Eigentlich bin ich zufrieden.
Im Verlauf des Tages teilen mir drei Kolleg*innen unabhängig voneinander mit, dass ich nicht gesund aussehe. Ob es am Stress oder an der Ernährung liegt, kann ich nicht sagen.
_Joy_lent am Abend, der Spaß bleibt aber aus.


Tag fünf, neun Uhr, hunderzweiundsiebzig Gramm Joylent, fünfhundert Milliliter Wasser.
Heute habe ich die Geschmacksrichtung Banane ausprobiert. Es scheint mir ein wenig, als seien die verschiedenen Geschmacksrichtungen das einzige was mich davon abhält, nicht sofort feste Nahrung zu mir zu nehmen.
Als sich meine Kolleg*innen ein wenig später eine Pizza in ein Meeting bestellen ist es um meine Disziplin fast geschehen. Ich nehme mir einen Apfel und halte es bis zur nächsten Mittagspause aus. Frustriert mische ich mir meinen Joylent-Shake.

Am Abend breche ich den Selbstversuch ab und versenke meine Zähne in einem Pizzabrötchen vom Bahnhofsbäcker am Alexanderplatz.
Nie hätte ich gedacht, dass für mich der Geschmack eine so große Bedeutung hat, selbst wenn ich convenience foods verspeise. Vermisst habe ich auch die Diversität an Geschmacksqualitäten: Nie war ich so froh, dass es ja noch umami, bitter, salzig und sauer gibt.

Nichtsdestotrotz werde ich den übrig gebliebenen Joylent-Vorrat noch verbrauchen. Gerade für stressige Situationen ist Joylent perfekt.

Der Selbstversuch hat mir gezeigt, dass ich die Rolle von Essen als größtenteils zur Nahrungsaufnahme dienlich unterschätzt habe.
Die gesamte Ernährung durch ein Substitut vorzunehmen ist nicht nur futuristisch, nein, es ist dystopisch.
Noch leben wir nicht in einer Welt, in der es nichts anderes zu essen gibt und wenn es mal so sein sollte, dann hoffe ich inständig, dass es besser schmecken, in weiteren Geschmacksqualitäten und Konsistenzen verfügbar sein wird.